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Das liberale Judentum ist eine von vier Hauptströmungen (Denominationen) des gegenwärtigen Judentums (orthodox, konservativ, liberal, rekonstruktionistisch), dem in all seinen Ausprägungen etwa 1.750.000 der rund 14 Millionen Juden angehören. Die verschiedenen Reform- und liberalen Gruppen weltweit sind alle Mitglieder der Weltunion für progressives Judentum, zusammen mit den Rekonstruktionisten. In den Vereinigten Staaten stellt die Strömung die wichtigste und größte Gemeinschaft dar seit den 1980er Jahren, während ihr Einfluss in Europa nach 1945 zuerst zurückging, nunmehr allerdings seit den 1990er Jahren ebenfalls wieder vermehrt an Bedeutung gewinnt.

Entscheidend für diese Richtung ist die Aufteilung der jüdischen Gebote in ethische und rituelle Gesetze sowie die Auffassung, dass die ethischen Gesetze zeitlos und unveränderlich seien, die rituellen Gesetze hingegen verändert werden könnten, um sie dem jeweiligen Lebensumfeld anzupassen. Im Gegensatz zum orthodoxen Judentum geht das Reformjudentum von einer fortschreitenden Offenbarung Gottes in der Geschichte aus. Dabei wird die Offenbarung als ein von Gott ausgehender und durch Menschen vermittelter dynamischer und fortschreitender („progressiver“) Prozess begriffen und nicht als ein einmaliger Akt, bei dem Moses durch Gott wörtlich die Tora („schriftliche Lehre“) sowie alle Auslegungen („mündliche Lehre“, später im Talmud und der Rabbinischen Literatur niedergeschrieben) erhalten hat. Daraus wird die Verpflichtung zur Bewahrung der jüdischen Tradition, aber auch zu ihrer beständigen Erneuerung abgeleitet. Die Texte des Tanachs sind einer historisch-kritischen Erforschung nicht entzogen. Statt auf das Kommen eines persönlichen Messias zu warten, hofft man auf das Anbrechen einer messianischen Zeit.

Das liberale Judentum bildete in Deutschland bis zur Schoah die Mehrheit innerhalb der „Einheitsgemeinden“. Heute ist das liberale Judentum (in den USA „Reform Judaism“ genannt) die Richtung mit den meisten Mitgliedern. Organisiert sind die jüdischen reformorientierten, liberalen und progressiven Gemeinden in der World Union for Progressive Judaism, die 1926 unter maßgeblicher Mitwirkung von Rabbiner Leo Baeck, einer Leitfigur des deutschen Judentums, gegründet wurde.

Markante Unterschiede des liberalen Judentums (gegenüber dem orthodoxen Judentum u. a.) sind:

  • besonderer Schwerpunkt auf den ethischen Aspekten des Judentums („auf Kosten“ der strengen Befolgung formaler Gebote)
  • Liturgie sowohl in Hebräisch als auch in der Landessprache.
  • Verwendung von Musikinstrumenten in der Liturgie.
  • Vermeidung von Gebeten, deren Inhalt der Betende heute eventuell nicht mehr teilt (zum Beispiel die Bitte um Wiedereinführung des Tieropfers, wie es im Tempel in Jerusalem bestand), und eine Kürzung des Gottesdienstes.
  • Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen religiösen Angelegenheiten, einschließlich der Ordination von Frauen zu Rabbinerinnen. Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von ihrem Familienstand oder ihrer sexuellen Orientierung.
  • Bekenntnis zu Demokratie und sozialer Gerechtigkeit innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinschaft.
  • Vorrang des inhaltlichen Sinns der Gebote (Mitzwot) vor ihrer verbindlichen Festlegung als „Zeremonialgesetz“. Zum Beispiel sollte der Schabbat als Ruhetag gefeiert werden; das Schreiben oder das Fahren mit dem Auto zur Synagoge (das nach orthodoxer Auffassung beides am Schabbat verboten ist) werden aber nicht als Entweihung des Feiertags betrachtet. Die Gebote sind also nicht aufgehoben, ihre Beachtung wird jedoch der Entscheidung des Einzelnen überlassen.
  • Eine offene Haltung gegenüber der nichtjüdischen Gesellschaft, aktive Teilnahme am interreligiösen und interkulturellen Dialog.
  • In den USA, offiziell anerkannte jüdische Abstammung durch den Vater oder durch die Mutter, falls nur ein Elternteil jüdisch ist.